Tapfere Feier des Individuellen

Immerhin ging es bei M. heute wieder ein Stück weit aufwärts. Wenn die Wege zurzeit auch generell steinig und mit vielen Hindernissen und Umwegen verbunden sind, die Lebenserfahrung hilft dabei, nicht gleich panisch zu werden und mit Geduld an der Normalisierung zu arbeiten. Schade eigentlich, dass man immer wieder das wiederherstellen muss, was man früher als „normal“ bezeichnet hätte, was zu den fraglosen Selbstverständlichkeiten gehörte. Es scheint heute nichts mehr selbstverständlich, alles muss immer wieder neu auf den Prüfstand, neu bewertet und neu justiert werden. Im selben Maße, wie das zur neuen Normalität geworden zu sein scheint, wird es für uns bedeutsamer, die Dinge im äußeren und inneren Leben zu pflegen und bewusst zu durchdringen, die uns immer schon gegeben sind, die zu unserem Erbe als menschliche Lebewesen gehören. Vielleicht sollte man sagen: als Lebewesen generell. Es ist ja auch das, was ich hier im Baumtagebuch schon so häufig herausgestellt habe, was mir im Zusammenhang dieses Themas aber wieder besonders bedeutsam erscheint: Die Bäume als fest verwurzelte Mit-Lebewesen können uns auf dem Gebiet vieles lehren, besser noch vorleben, was das Bewusstsein und das Zufriedensein mit dem immer schon Gegebenen betrifft. Denn sie bewähren sich lebenslang an ihrem Standort, stellen sich unerschütterlich den besonderen Gegebenheiten ihrer Umgebung, dem wechselnden Wetter, den sich wandelnden Lichtverhältnissen, der nicht immer gleich, manchmal auch bedrohlichen Konkurrenzsituation mit den Pflanzen in ihrer Umgebung, und schließlich auch den weiterreichenden Bedingungen ihres Lebens, die vom Weltklima und von Lebensgewohnheiten und Zumutungen bestimmt werden, die sehr weit von ihrem eigenen Lebensumkreis entfernt zu lokalisieren sind. Und doch schaffen sie es, ihre Individualität als Einzel-Wesen zu behaupten und stetig weiterzuentwickeln, die bei aller Zugehörigkeit zu einer Art doch die ganz von den Lebensumständen abhängige Einzelexistenz verkörpert und feiert.

Von den Bäumen als Mit-Lebewesen lernen

Es sind Zeiten, in denen es schwerfällt, tatsächliche Veränderungen herbeizuführen. Solche jedenfalls, die das Krisenhafte zurückdrängen könnten. So liegt nach wie vor der Schwerpunkt aller Bemühungen beim Lecken der eigenen Wunden. Am möglichst schadlos durch die Zeit kommen. So ganz weit weg von wirklichem Gestaltungswunsch, der auf eine verbesserte, liebenswürdigere Zukunft ausgerichtet wäre. Die Menschen haben es tatsächlich schwer, es scheint, sie sind bei so vielen Baustellen gleichzeitig überfordert. Auch weil es zu fast nichts eine Vergleichsvorlage gibt. Man muss die Dinge ständig wieder neu einordnen, zu verstehen versuchen, versuchen, Schlüsse zu ziehen, Dinge anzupassen. Ich wünschte mir aus der unverrückbaren Kraft der Baumindividuen heraus, nach ihrem Vorbild sozusagen, wieder mehr Mut in dieser Richtung. Das eigene voranbringen, immer mit dem Bewusstsein zu einem größeren sozialen Ganzen zu gehören, mit vielen Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten. Das können wir tatsächlich immer noch und immer wieder von den Bäumen als symbolstarke Mit-Lebewesen lernen.

Sonne, Bäume und dynamische Austauschprozesse

Das war heute der bisher sonnenreichste Tag des Jahres. Zumindest sagt das die Einspeisung aus der Photovoltaik. Aber man kann das auch schon atmosphärisch einschätzen, deshalb habe ich am Abend ja auch den Wert überprüft. So kann man sich Sommer ganz gut vorstellen. Zwar wäre es zu heftig, wenn es dauerhaft auf diesem Temperaturniveau sich bewegt – zu anstrengend für den Organismus von Mensch, Tier und Pflanze. Aber einzelne Tage oder kürzere Phasen solchen Hochsommerwetters sind schon aufbauend. Man merkt, wie sich die Aktivität und Einstellung der Menschen dynamischer, stärker nach außen gerichtet gestaltet. Und man bemerkt selbstbeobachtend und die Umgebung betrachtend, dass im Sommer die verschiedenen Formen des Lebens sich stärker im Gleichklang entwickeln, stärker aufeinander Bezug nehmen, die Lebensdynamik gemeinsam und aufeinander aufbauend nach oben schrauben. Wie sollte man sich z. B. einen wirklichen Hochsommer ohne Bäume vorstellen, die einerseits ihr Maximum an Blättern ausbreiten und sich mit dem Tanken von Sonnenenergie in die Höhe und Breite auswachsen und die andererseits in selben Zuge Schatten spenden, mehr Sauerstoff denn je verströmen und damit alles sonstige Leben erst möglich machen. Im Sommer sind diese über Bäume laufenden Energieprozesse und Austauschprozesse intensiver denn je. Und das ist es letztlich, was uns in dieser Zeit aufrichtet und die stärkere Außenorientierung mit sich bringt.