Nerven-Baum

Leider schon wieder etwas abgekühlt heute. In dieser Mischung von Sonnenschein, milder Temperatur und Regenschauern wachsen die Pflanzen besonders gut. Wachstumswetter nennt man das wohl. Hoffen wir, dass das dem Grün einen guten Schub gibt. Denn das Grün des Frühlings ist für mich das Schönste, zarter und leichter, würde ich sagen, als das Sommergrün, oder gar als das Grasgrün des Winters. Merkwürdig, ausgerechnet in dieser Aufbruchzeit muss ich diese Nervenschmerzen haben. Da fällt mir der Vergleich in Hildegard Marcus‘ Buch ein: Dendriten, die eigentlichen Nervenbahnen, leiten ihre Bezeichnung von altgriechisch to dendron (Baum) ab, weil sie diese baumähnliche Verzweigung aufweisen. Einer solchen Verzweigung habe ich es zu verdanken, dass mir derzeit der Strom ins linke Bein fährt. Und auch hier wieder die Brücke zu den Bäumen: Das alles nur, weil die Wirbelsäule, der Körper-Stamm, aus ihrem natürlichen Gleichgewicht geraten ist.

Frühlingsanfang

Das Klima war dem Tag- und Nachtgleiche des Frühlingsanfangs heute wirklich angemessen. Sehr schön mild und vor allem schon am frühen Morgen strahlend hell. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Blütenstände der Spitzahorne rauskommen, die Knospen waren heute schon ganz leicht geöffnet. Wenn die sichtbar sind, ist für mich der Frühling endgültig angekommen. So hoffe ich auf ein schönes Osterfest, auch wenn geschäftsmäßig gesehen der heutige Tag vorsichtig ausgedrückt eher ernüchternd war. Und wenn wir dem Bauernkalender mit seinen unglaublichen volkstümlichen Regeln glauben schenken können, dann ist das Wetter am Frühlingsanfang Zeichen eines richtig guten Wetter-Jahrs 2005.

Gestörte Vertikale

Das Standhafte, die hoch aufgerichtete Vertikale gehört zu den wesensmäßigen Gemeinsamkeiten von Mensch und Baum und ist einer der Gründe, warum Menschen sich so häufig in den Bäumen spiegeln. Der Zustand der Vertikalen ist eine Art Gradmesser der körperlich-geistigen Verfassung und beeinflusst zudem die Ausstrahlung. Eben diese leidet bei mir zurzeit ganz erheblich, und so mischt sich in die Freude über die endlich wieder erwachte Natur und die wärmeren Temperaturen undefinierbare Müdigkeit und Erschöpfung. Ich wünsche mir, dass der Frühling gewissermaßen in mich überspringt und dass der Anpassungsprozess nicht mehr allzu lange braucht.

Zum Zustand unserer Bäume

Zwei Drittel aller Bäume in Deutschland seien geschädigt. So die neueste Zahl des Statistischen Bundesamtes. Dieser Wert, der anlässlich des ,,Tages des Waldes“ am kommenden Montag veröffentlicht wurde, geht auf eine Studie aus 2003 zurück, die von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa durchgeführt wurde. Weiterhin sind nach dieser Studie in Europa zwischen 40 und 90 Prozent aller Bäume nicht gesund, Deutschland liegt also im Mittelfeld. Bemerkenswert, dass solche Meldungen, die sich in unbedeutenden Varianten fast jährlich wiederholen, immer nur die Feststellung machen. Unabhängig von der immer zu klärenden Frage, was eigentlich geschädgit bedeutet, scheint sich keiner die Mühe zu geben oder es für nötig zu halten, daraus eine Forderung, z. B. nach wie auch immer gearteten schützenden Maßnahmen abzuleiten. Gerade so, als ob man sagen wollte: Dem Wald und den Bäume geht’s schlecht: was soll’s! Wir sind schon ganz schön abgestumpft, geradezu nichts kann uns mehr erschüttern. Unser Verhältnis zu den natürlichen Grundlagen unseres Lebens kommt da nicht besser weg als das zu Katastrophen, Kriegen und Hungersnöten in vielen Teilen der Welt. Man nimmt es zur Kenntnis und macht im Übrigen so weiter wie bisher. Viel wurde über diese fatalistische Denkart schon geschrieben, aber eine sich praktisch auswirkende Bewusstseinsveränderung hat sich daraus nicht ergeben. Dabei will ich mich selbst nicht auf den Sockel heben, ich habe mich ebenso in der Wohlstandsgesellschaft eingerichtet, aber immerhin merke ich, dass es da ein Problem gibt.

Endlich Frühling

Der erste echte Frühlingstag mit wunderbarem Sonnenschein und fast schon sommerlichen Temperaturen. Die Knospen der Bäume stehen teilweise schon vor dem Durchbruch. Die Weiden zeigen ihre ersten flauschigen Kätzchen und die männlichen Blütenkätzchen der Erlen haben sich geöffnet, auf dass der Wind ihre Anlagen zu den weiblichen Blüten trägt. Sie zeigen sich jetzt gleichzeitig mit den bräunlich-verholzten Gerippen der vorjährigen Zapfen und verleihen den Bäumen ein sehr dekoratives Aussehen. Das ist schön so und rechtzeitig kurz vor Beginn der Tag- und Nachtgleiche, dem eigentlichen Frühlingsanfang. Die Natur geht nach der ungewöhnlich langen Ruhe- und Durchhaltephase in den Aufbruch über. In einen hoffentlich wohltemperierten Frühling mit viel Licht.

Deutsche Pflanzensagen

Es ist ein vielzitiertes Buch, ,,Deutsche Pflanzensagen“ (Originalausgabe 1864) von Anton Ritter von Perger. Bei meinen Betrachtungen zum Weihnachtsbaum und zum Maibaum wäre es mir schon nützlich gewesen. Leider war es bisher nicht mehr über den Buchhandel zu bekommen. Jetzt habe ich bei amazon ein gebrauchtes Exemplar des Reprints von 1978 gefunden, welches noch zu DDR-Zeiten eben dort erschienen war. Ich freue mich, dass es noch wie neu ist. Zweierlei hat mich beim ersten Durchblättern überrascht: Die Sütterlin-Schrift, die das Lesen etwas mühsamer machen wird, und die Tatsache, dass sich 9 von 10 Kapiteln nicht mit den Bäumen, sondern mit allen möglichen anderen Pflanzen beschäftigen. Lediglich das 10. und letzte widmet sich den Bäumen, eingeteilt in Laubbäume, Obstbäume und Tangeln (?? letzteren Ausdruck habe ich noch nie gehört). Wenn ich auch noch nicht weiß, wann ich dazu kommen werde, es zu lesen, bin ich doch gespannt auf das Buch. Klassiker vermitteln häufig einen ganz anderen Blick auf das Thema und lassen sich trotzdem gut auf moderne Erfahrungen beziehen, gerade weil schon einige Menschen-Generationen dazwischen liegen, die eine ernüchternde Differenz erzeugen.

Graffiti-Baum

Graffiti-Baum

Graffitis als innerstädtische Gestaltungsmöglichkeit finde ich in der Regel recht aufmunternd. Wenn sie gut gemacht sind. In D. wurden in den letzten Jahren immer wieder Flächen freigegeben, die offenbar von Schülern oder Jugendinitiativen gestaltet wurden. In der Regel sehr phantasievoll, schön bunt und dynamisch. Noch nie habe ich bisher aber gesehen, dass ein Baum in den Entwurf mit einbezogen wurde. Oder soll ich sagen, er wurde im Vordergrund des eigentlichen Wandgraffitis gleich mitbesprüht, aber in der gleichen Art und durchaus harmonisch dazu. Eigentlich bin ich gegen Verschandelungen von Bäumen, aber in diesem Fall, finde ich, hat das Ganze einen gewissen Charme. Auch hoffe ich, dass die Platane nicht unter der Chemie der Farben leidet. Immerhin, in Form des Maikäfers hat der vermutlich jugendliche Künstler seiner Tat inhaltlichen Sinn verliehen. Und der Baum weiß sich zu behaupten: Er wirft seinen Schatten auf das Motiv und bereichert es mit wechselhaften Strukturen.

Domestiziertes Stadtbild

In D. scheint jetzt die Baumschnitt-Wut ausgebrochen zu sein. Inzwischen wurden auch solche Platanen radikal gekappt, die in den letzten Jahren keinerlei Schnitt erfahren haben. Dabei dachte ich, es gäbe nur diese beiden Alternativen: entweder von Anfang an und jährlich alle nachschießenden Äste entfernen, auf das der Stamm immer opulenter und knorriger wird, oder aber den Baum seinem natürlichen Wuchs ohne Eingriff überlassen. Hoffentlich bekommt das den doch sicherlich geschockten Bäumen. Eines aber muss ich sagen, das einheitliche Vorgehen verleiht dem Stadtbild einen neuartigen Charme und trägt sicherlich dazu bei, so etwas wie ein grünes Profil auszubilden. Die natürliche Skulpturenlandschaft wirkt außerdem gleichzeitig sauber und abwechslungsreich, denn die astlose Kontur der Bäume hebt deren Individualität ganz stark hervor – was auch immer man von solchem Domestizieren halten mag.

Später Frühling

Die Natur kann es noch nicht so richtig fassen, dass der Frühling jetzt wohl endlich kommen soll. Alles wirkt so matt, kein Wunder, denn bis vor wenigen Tagen deckte der Schnee noch alles ab. Und jetzt, eine Woche vor der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, bleibt es abends schon bis 19.00 Uhr hell. Und mit den steigenden Temperaturen und dem Licht wird auch das Grün zurückkommen. Ich hoffe deshalb auf ein Osterfest mit echtem Frühlingsklima und vor zartgrüner Kulisse, einschließlich der ersten Baum-Blätter. Dann macht das Fotografieren auch wieder mehr Spaß. Im Winter sind mir selten gute Fotos gelungen. Übrigens: Für dieses Jahr tippe ich wieder auf einen heißen Sommer, liegt irgendwie in der Logik: Langer Winter, später Frühling, früher heißer Sommer. Vielleicht sollte ich mal im Hundertjährigen Kalender nachsehen.

Bäume und Selbstspiegelung

Bei der Frage, welche Beziehungen und symbolischen Zusammenhänge zwischen Menschen und Bäumen bestehen, interessiert mich gegenwärtig die gestalthafte Ähnlichkeit. Wie ist es möglich, dass sich Menschen in Bäumen spiegeln, und wo sind wesenhafte Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Ich erwarte von der Betrachtung dieser Frage neue Aufschlüsse über die außerordentliche Symbolkraft der Bäume, die etwas Archetypisches im Menschen anzusprechen scheinen. In der Literatur wird dieser Aspekt immer wieder am Rande und in den unterschiedlichsten Kontexten angerissen, aber selten weiter verfolgt. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu isolieren, wenn ich selektiv lese und die eigene Erfahrung nicht außer Acht lasse.

Besonderheiten

Meine Sammlung mit Büchern über Bäume wächst kontinuierlich. Ich denke schon länger daran, ihnen ein gesondertes Regal zu widmen. Obwohl das nahe liegend wäre, möchte ich kein Holzregal, es soll eines aus Glas sein. Heute habe ich mich in einer Firma für Glasgestaltung umgesehen und ein Angebot eingeholt. Ich hoffe nur, dass ich es mir werde leisten können. Ist nämlich nicht ganz billig, da die Scheiben wegen der Belastung ziemlich dick sein müssen und das ganze ja geklebt wird. Allein das Regal (ohne Bücher) wird ca. 60 kg wiegen. Ich bin sicher, dass es sehr gut aussieht und ich es auch über viele Jahre hinweg nicht leid werde. Am Nachmittag habe ich nach längerer Zeit mal wieder Holz gesägt, den Platanenabschnitt, den ich vor ein paar Tagen aus D. mitgebracht habe. In frischem Zustand zeigt es eine sehr schöne Struktur und eine gelblich-rötliche Färbung. Erinnert mich an Ahornholz. Ich bin gespannt, wie es sich nach dem Trocknen macht, und ob es sich gut verarbeiten lässt. Der einzige dünne Pfirsischbaum-Abschnitt, eine wirkliche Rarität, die V. im Sommer vom Bienenhaus brachte, war im Inneren leider ziemlich stark gerissen, außerdem hat er zahlreiche quer laufende Knoten. Wenn er sich drechseln lässt, könnte es gerade so ein Armband werden. Das Holz ähnelt dem Kirschbaum, schön warm und lebendig mit Gelb-Rot-Violett-Tönen.

Wald der Abwesenden

Am Jahrestag des Terroranschlags in der Nähe von Madrid sind es die Bäume, die die unermessliche Trauer der Hinterbliebenen von insgesamt 192 Opfern auffangen. Während spanische Politiker im Laufe des vergangenen Jahres das Ereignis zum Gegenstand parteipolitischer Machkämpfe machten, wünschen sich die Bürger heute ein stilles Gedenken ohne mediale Ausschlachtung. Zu Tief sitzt noch der Schmerz angesichts des schlimmsten terroristischen Anschlags der europäischen Geschichte. Bei der Wahl des Denkmals aber hat die Politik die richtige Wahl getroffen. Heute soll König Juan Carlos und Ministerpräsident Zapatero mit UNO-Generalsekretär Kofi Annan, Bill Clinton und Dutzenden von Staats- und Regierungschefs den „Wald der Abwesenden“ einweihen. Ein im Stadtpark angelegter Wald, der exakt 192 kleine Zypressen und Olivenbäume zählt, die symbolisch für jedes einzelne Terroropfer stehen. Wie könnte man diesen Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod vieler Menschen und den Hoffnungen der Lebenden auf eine friedlichere Welt ohne Angst und Schrecken besser darstellen als mit dem lebenden Symbol des Baumes. Die Zypresse steht für die Hoffnung und das Weiterleben auf einer anderen Ebene, der Ölbaum für Weisheit, Stärke und unbedingten Überlebenswillen. Der so zusammen gestelllte Wald wird wachsen, und mit ihm die Hoffnung der Menschen auf eine menschlichere Zukunft.

Die klare Sicht

Die Bäume können dabei helfen, das Wesentliche zu sehen und sich auf das Wesentliche zu beschränken. Das habe ich schon öfter bemerkt. Die andere Wahrheit, die Ähnliches bedeutet, betrifft das Vermögen, sinnhafte Kommunikationen zu erkennen und zu steuern sowie Emotionen richtig einzuordnen. Bewegen wir uns auf der selben Wellenlänge, versteht er/sie mich wirklich, haben wir die selben Motive und Zielvorstellungen? Bewerten wir die Situation ähnlich, sehen wir den selben Bedarf nach Veränderung oder Kontinuität? Es ist nicht immer leicht, solche Fragen spontan zu beantworten. Jeder von uns kennt große Enttäuschungen, dann nämlich, wenn man sich wieder einmal in anderen getäuscht hat, ihnen Denkweisen und Gefühle unterstellt hat, die in Wirklichkeit nur die eigenen waren. ,,Die Scheuklappen ablegen“, ,,Ehrlich zu sich selber sein“, ,,Den Tatsachen ins Gesicht sehen“, ,,Vertrauen in die eigene Intuition haben“, sind einige der Empfehlungen, die man dann von anderen hört oder sich selber zuspricht. Zwischendurch diese von vergangenen Erfahrungen und eingeschliffenen Ansichten befreite Null-Situation herbeizuführen, kann wichtig sein, um wieder klar sehen und fühlen zu können. Die Bäume unterstützen mich dabei.

Platanenzufall

Heute hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, mir ein Stück Platanenholz zu besorgen. Die Stadt hatte schon recht hoch gewachsene Bäume im Zentrum kurzerhand gestutzt. Ich nehme an, weil sie sie künftig, wie die Alleebäume gestalten wollen, pflegeleicht und mit dieser typischen mediterranen Ausstrahlung. Da der Schnitt recht radikal war, sind dicke Astabschnitte angefallen. Einen kleinen davon habe ich mir stibitzt. Es ist eben ein typischer Stadtbaum und deshalb ist schwer ranzukommen. Ich denke, dass ich den Abschnitt zu schmalen Stäben verarbeite, die dann später vielleicht mal als Rohlinge für Armbänder oder ähnliches zu gebrauchen sind.

Persönliches Baumtagebuch von Bernhard Lux: Täglich begegne ich den Bäumen auf vielfältigen Wegen. An ihrem jeweiligen Standort in der Natur, in der Lektüre von Baum- und anderer Literatur, in der alltäglichen Reflexion, der handwerklichen Arbeit und im Gespräch mit der Familie oder Freunden und Kollegen. Es ist mir ein Bedürfnis, diese themenbezogenen Beobachtungen, Interaktionen und Kommunikationen in Form des Baumtagebuchs zu dokumentieren. Seit dem 20. November 2004 habe ich keinen einzigen Tag ausgelassen – ein Zeichen dafür, dass das Baumthema und der Baum als Archetypus tatsächlich im Alltagsleben verankert ist und vielfältige inhaltliche Assoziationen ermöglicht. So mag dieses Baumtagebuch jeden seiner Leser/innen auf die Spur einer je eigenen Beziehung zu den Bäumen führen.