Wechsel der Jahreszeit als Spiegel des Göttlichen

Die Vorträge Rudolf Steiners zum bewussten Wahrnehmen des Jahreslaufs faszinieren mich sehr und vermitteln mir tiefe Einsichten und ein besseres Verständnis der eigenen Naturauffassung. Bei den heute gelesenen Vortragsmitschriften geht es in Ergänzung zu der Grundidee der vorangegangenen Vorträge, dass der Vegetationszyklus als Beispiel des jahreszeitlichen Wechsels eine Art Atmungsvorgang der Erde, ein rhythmischer Wechsel von Ein- und Ausatmung darstellt. Schon in dieser Grundidee ist die Vorstellung enthalten, beim Ausatmen, spricht dem Wachsen, Grünen und Blühen der Pflanzen im Frühjahr-Sommer, stellten die Pflanzen eine Verbindung zur geistigen Welt, zu den kosmischen Kräften her. In einem späteren Vortrag dehnt Steiner diesen Gedanken auf die Welt der Tiere aus, enggeführt am Beispiel der Singvögel. Er stellt dabei genau die Frage, die ich V. und M. vor einigen Monaten angesichts des wochenlangen unermüdlichen Gesangs von Felix, unserer Hausamsel, gestellt hatte. Dass es dabei primär um das Anlocken von Weibchen ginge, war mir von Anfang an fragwürdig, es musste eine andere Erklärung geben, zumal in Felix tatsächlichem Verhalten die Partnersuche keine wirkliche Rolle zu spielen schien. Die Antwort Steiners ist wie so oft verblüffend: Ihren Gesang tragen die Singvögel über den Äther in den Kosmos hinaus, wo er sich mit geistigen Kräften auflädt und so angereichert wieder zur Erde zurückgeworfen wird. Dort prägt er das Leben nicht nur der Singvögel, sondern eigentlich aller tierischen Lebewesen. Diese Vorstellung des Hineinwirkens kosmischer Kräfte in der Sommerzeit hat Steiner dann auch in den Zusammenhang der Jahreszeitenfeste und ihre Motivation gestellt. Während die bekanntesten, Ostern und Weihnachten, den Frühling und Winter markieren, sind Sommer und Herbst eher nicht so prominent vertreten. Johanni und Michaeli, ein Begriff vielleicht in manchen ländlich geprägten Gegenden Europas. Tatsächlich aber verbindet sich doch für die meisten heute Sommer mit Urlaubszeit und Badespaß, der Herbst mit Ernte und Blätterfall. Immerhin letzterer kommt dem nahe, was auf einer geistigen Eben nach Steiners Anschauung geschieht. Im Sommer, gerade zurzeit der Sommersonnenwende dehnt sich der menschliche Geist in den Kosmos aus, nimmt Kontakt auf mit der ursprünglichen göttlichen Quelle. Diese Energien prägen die Vorstellung und Entwicklung des menschlichen Ichs. Es geht dabei um Licht und Erleuchtung. Im Herbst, mit dem Rückzug des Lichts und dem Reifen und Verfallen in der Natur, wird der Mensch wieder stärker auf seine Körperlichkeit zurückgeworfen. Der Blick geht auf die äußere Erscheinung des Natürlichen, das beobachtet werden will. Im Winter mit dem Höhepunkt der Weihnachtszeit in der Wintersonnenwende ist bei erstorbener äußerer Natur der Mensch wieder auf die Erde, man kann in die Erde zurückgeworfen. Der Gegenpol des Geistigen, das Böse, Animalische, Versuchende prägt diese Zeit und produziert Versuchungen und moralische Bewährungsproben. Der Frühling schließlich ist die Zeit der Selbstbetrachtung, der ehrlichen Rekapitulation, die Zeit der Buße, in der der Mensch sich selbst zum Beobachtungsgegenstand macht. Er bereitet damit die Hochzeit der Geistaufladung im Sommer erneut vor. So gesehen ist das Verfolgen und bewusste Leben der Jahreszeiten ein Katalysator für die eigene geistige Entwicklung. Ein Prozess, in dem die Bäume beispielsweise und die in ihnen lebenden Elementarwesen nicht bloß fremdes Gegenüber sind, sondern Elemente in einem umfassenden Kommunikationssystem, das weit über das Begreifen des vom Verstand dominierten Bewusstseins hinausgeht. Danach nutzen z. B. solche Pflanzen, die vom Menschen beobachtet werden, gerade diese Aufmerksamkeit, um sich zu höheren geistigen Formen weiterzuentwickeln. Ein Prozess, der wechselseitig abläuft. Denn im nicht nur äußerlichen Beobachten, sondern echten Miterleben der Veränderungen jahreszeitlicher Prozesse, welche das Göttliche widerspiegeln, begegnet der Mensch dem Göttlichen an jedem Tag.