Du aber bist der Baum

In einem Buch mit Texten über Engel, das mir J. zu Weihnachten geschenkt hat, habe ich das Gedicht ,,Verkündigung – Die Worte des Engels“ von Rainer Maria Rilke gefunden:

Verkündigung
Die Worte des Engels

Du bist nicht näher an Gott als wir;
wir sind ihm alle weit.
Aber wunderbar sind dir
die Hände benedeit.
So reifen sie bei keiner Frau,
so schimmernd aus dem Saum:
Ich bin der Tag, ich bin der Tau,
du aber bist der Baum.

Ich bin jetzt matt, mein Weg war weit,
vergib mir, ich vergaß,
was Er, der groß in Goldgeschmeid
wie in der Sonne saß,
dir künden ließ, du Sinnende,
(verwirrt hat mich der Raum).
Sieh: Ich bin das Beginnende,
du aber bist der Baum.

Ich spannte meine Schwingen aus
und wurde seltsam weit;
jetzt überfließt dein kleines Haus
von meinem großen Kleid.
Und dennoch bist du so allein
wie nie und schaust mich kaum;
das macht: Ich bin ein Hauch im Hain,
du aber bist der Baum.

Die Engel alle bangen so,
lassen einander los:
Noch nie war das Verlangen so,
so unewiss und groß.
Vielleicht, dass etwas bald geschieht,
das du im Traum begreifst.
Gegrüßt sei, meine Seele sieht:
Du bist bereit und reifst.
Du bist ein großes, hohes Tor,
und aufgehn wirst du bald.
Du, meines Liedes liebstes Ohr,
jetzt fühle ich: Mein Wort verlor
sich in dir wie im Wald.

So kam ich und vollendete
dir tausendeinen Traum.
Gott sah mich an; er blendete …

Du aber bist der Baum.

Wir vieles von Rilke für mich nicht beim ersten Lesen schlüssig. Die Verkündigung des Engels richtet sich an einen Baum, der durch die Formulierung ,,Du aber bist der Baum“ zum Schluss jeder Strophe diesem eine gewisse Sonderstellung einräumt. Worin aber besteht diese Sonderstellung und welche Rolle spielt genau der Engel? Geht es um die Natur und Baum belebenden Kräfte, die das Wachstum und Aufblühen steuern? Ist der Engel eine Metapher für die Elementargeister, die den Baum in seiner konkreten Gestalt formen und ihn seiner Individualität überlassen? Einige der Bilder sind mir noch nicht verständlich. Wenn sie sich mir erschließen, werde ich das Gedicht vielleicht in meine Sammlung aufnehmen. Wie aber wäre es dann zu illustrieren?