Das Mysterium von Golgatha

Ein Karfreitag, der dem Feiertag angemessen war. Die Liturgiefeier am Nachmittag hatte ich früher als Messdiener nur sozusagen dienstlich erlebt. Jetzt nehme ich die gesprochenen Texte inhaltlich viel bewusster wahr. Auch die Erzählung von Pastor M. über die Historie des Feiertags-Kruzifixes der Pfarrkirche fand ich sehr beeindruckend und so passend aus Anlass der Osterfeiertage ausgewählt. Da stellen sich plötzlich Verbindungen her zu unserem verstorbenen Pfarrer und einem expressionistisch arbeitenden Süd Tiroler Herrgottschnitzer. Das Holz des Kreuzes hatte ich vor einigen Jahren in meinem Text zur christlichen Bedeutung des Lebensbaumbegriffs thematisiert. An keinem anderen Tag kann man den Grundgedanken der Wiederentstehung nach dem Tod besser vergegenwärtigen als am Karfreitag. Wie ein inhaltlich stimmiger Abschluss meiner Feiertagsreflexionen wirkte dann die erneute Lektüre des letzten Vortrags von Rudolf Steiner aus seiner Vortragsreihe über den Tod und das Leben. In diesem Text geht er u. a. auf historische Verhältnisse ein, die den Kreuzestod des Christus mit einer bahnbrechenden Weichenstellung in der geistigen und seelischen Entwicklung der Menschheit in Zusammenhang bringen. Das Mysterium von Golgatha öffnet nach dieser Gedankenlinie heute noch den Weg zu einer Auffassung des menschlichen Lebens, die weit über die leibliche und seelische Verfasstheit des Individuums hinausgeht. Die Erfahrung des Unbegreiflichen und im Verstand nicht vollständig fassbaren ermöglicht aus der konkreten Lebenserfahrung heraus erst den Zugang zum Geistigen und damit zu einer Ebene des Lebens, die über die einzelne Inkarnation hinausgeht. So schlüssig wie heute hatte ich den Text bei meiner letzten Lektüre noch nicht empfunden. Ein Grund, bestimmte Texte nur an bestimmten Tagen zu lesen, an denen der Nährboden zu ihrem Verständnis gelegt ist.